Albert Heiser

Ich war ungefähr 8 Jahre alt. Der Grundschullehrer gab uns die Hausaufgabe ein Bild unserer Wahl mit Buntstiften zu zeichnen. Als Motiv wählte ich die Titelseite meines Zirkus Bilderbuches. Ich zeichnete das Motiv mit Bleistift freihändig ab und malte es mit Buntstiften aus. Ein sitzender Löwe auf einem Podest hinter Metallgittern in der Zirkusmanege.

Am nächsten Tag in der Schule sollten alle Schüler ihre Zeichnung vorstellen. Ich legte das Bilderbuch und meine Zeichnung auf meinen Platz. Die Mitschüler bestaunten meine realistische Buntstiftzeichnung. Ich wusste, dass der Löwe gut getroffen war und stolz darüber. Den ganzen Nachmittag und Abend hatte ich daran gemalt, bis ich ins Bett musste. Meine Mutter, seitdem mein größter Fan, war erstaunt, wie gut die Zeichnung geglückt war. Sie kannte sich in Zirkuswelten und Jahrmärkten aus und staunte über die realistische Darstellung.

Plötzlich behauptete ein Mitschüler, ich hätte die Titelseite einfach abgepaust. „Nein, sagte ich bestimmt.“ „Ja, abgepaust!“ stimmten andere mit ein. In ihren Augen war klar, dass man die Titelseite so gut freihändig nicht abmalen könne. Das traf mich sehr, denn ich hatte besonders darauf geachtet, die Proportionen möglichst genau zu treffen. Die anfänglichen Bewunderinnen belächelten mich schon milde, so, als hätte man mich beim Mogeln erwischt. Und unser Lehrer war der gleichen Meinung: Abgepaust! „Niemals“, wehrte ich mich mit den Kräften eines Achtjährigen. Vergebens. Alles umsonst. Ich war tief getroffen und lies das Zeichnen nach dieser ersten Katastrophe sein. Diese Szene kam mir erst viele Jahre später, beim Malen, wieder in den Sinn.

Mein zweites Malerlebnis hatte ich am Gymnasium. Dort traf ich auf den besten Kunsterzieher, den man sich wünschen konnte, Guido Ludes. Von der ersten Stunde an weckte er mein verborgenes Talent. Bleistifte in allen Stärken, Rötelkreide, Aquarellfarben, Sand- und Tintenmalerei bestimmten fortan meine Nachmittage. Einen Abend in der Woche besuchte ich den Volkshochschulkurs für Aktmalerei. Mit Freunden ging ich in Kunstausstellungen und schrieb Referate über Salvador Dali, Pablo Picasso, Claude Monet und verehrte Andy Warhol, Ives Klein und Josef Beuys. Monatelang betrieb ich anatomische Studien und zeichnete antike Statuen und Tierschädel. Das ging soweit, dass ich einen Rinderschädel als Studienobjekt vom Schlachthof beschaffte.

Unser Nachbar, in einem kleinen Dorf der Pfalz, war Landwirt und nahm gelegentlich Privatschlachtungen vor. Da war es gar nicht ungewöhnlich, in einem großen Sudkessel, aus Schweine- oder Rinderköpfen Schlachtsuppe zu kochen. Einfach Wasser einfüllen, Holzscheite anfeuern, Rinderkopf in die Brühe werfen und warten bis die Suppe fertig war. Nach 3 Stunden kochen fielen die Fleischreste vom Knochen. Der Schädel kam sauber, bis auf wenige Knorpelreste zum Vorschein. Unsere Nachbarn, Helmut und seine Mutter, legten den Schädel auf das schwarze Steinpflaster vor dem Sudhaus. Ich war begeistert. Da lag nun mein sauberes Studienobjekt samt Zähnen vor mir. Der Schädel bekam einen Ehrenplatz auf meinem Schreibtisch. Fortan malte ich ihn mit Rötelkreide und Bleistift aus allen Perspektiven.

Nach dem Abitur war klar, ich studiere Kunst. Die Bewerbungsmappe war schnell zusammengestellt und man lies mich zur Aufnahmeprüfung zu. Das Thema der Prüfung lautete: Abbruch. Eine Arbeit sollte mit Tonerde und eine mit Kreide angefertigt werden. Ich konnte mit dem abstrakten Begriff „Abbruch“ nichts anfangen und Tonerde hatte ich bis zu diesem Tag noch nie zwischen den Fingern. Das letzte Mal wahrscheinlich im Kindergarten. Daran konnte ich mich aber in diesem Moment nicht erinnern und nicht als Inspirationsquelle nutzen. Blackout.

Mir fiel nichts ein. Das Ergebnis war eine gequälte Felsformation mit schwarzer Kreide und ein unproportionaler Fußballer, der mit gebrochenem Schienbein auf einer Trage aus dem Fußballstadion getragen wurde. Das Kunststudium war mit diesen Arbeitsproben beendet, bevor es anfangen konnte. Ich war durchgefallen.

Was sollte ich jetzt tun? Ein Fotograf gab mir den Tipp, dass man in Berlin Werbung studieren könne. Die Kreativen würden sich danach in Werbeagenturen Kampagnen, Bilder, Texte und Filme ausdenken.

Das passte, schließlich hatte ich die letzten Jahre mit großer Sammelleidenschaft John Player Special-Anzeigen, eine damalige Zigarettenmarke, aus Zeitschriften ausgerissen. Die Kampagne machte damals mit Lifestyle Fotos auf sich aufmerksam. Die Fotos in schwarz-weiß gefielen mir sehr. Die Motive sollten das französische Savoir Vivre widerspiegeln. Eine leicht bekleidete Frau in einem nassen Männerhemd am Sandstrand, ein junger Mann auf einem französischen Himmelbett oder zwei Paare tanzend im Regen.

Da ich glaubte, der Weg zur freien Bildgestaltung und Malerei sei verschlossen studierte ich also Werbung an der Universität der Künste Berlin und wurde Werbetexter. Hier konnte ich mir Bilder und Storys für Anzeigen, Broschüren oder Werbefilme ausdenken und schrieb auch gleich den Text dazu. Das fiel mir leicht. Also entwarf ich fortan Auftragskunst. Nationale und internationale Kampagnen für Automobile, Banken, Stromerzeuger, Motorräder, Autoreifen oder Waschmittel, die in Zeitschriften, im Radio, im Fernsehen oder Kino erschienen. Frei nach dem Motto Michael Schirners: „Werbung ist Kunst.“

Viele Jahre später bekam meine Frau Anna von der Aquarellmalerin Sonnhild Greve-Bullinger, einen Malkurs in Ligurien/Italien zum Geburtstag geschenkt. „Tolle Idee, da komme ich mit“, sagte ich spontan. Inspiriert von der Vorstellung, dass mich in Ligurien auf einer Picknickdecke bei einem Glas Rotwein das Dolce Vita küsst. Den Aquarellpinsel wollte ich nur nebenbei mal schwingen, als Alibi. Wein, Weib, Gesang, gutes Essen und nichts tun, waren meine Urlaubsziele.

Es kam alles anders. Vom ersten Tag des Malkurses an, als die Pinsel und Farben ausgepackt wurden, war ich wie elektrisiert. Ich legte den Pinsel nicht mehr aus der Hand. Jeder Strich gelang. Alles war mit vertraut. Das Aquarell, die Motivwahl, die Perspektiven, die Bildausschnitte oder die Farbwahl. Mein innerer Drang war so groß, dass ich auch nach Stunden keine Ermüdung verspürte und nicht mehr aufhören wollte.

Hinzu kam, dass 20 Jahre Werbung ihre Spuren hinterlassen hatten. Das Spannungsfeld zwischen Kunst und Kommerz war stets ein Thema, mit dem man sich beschäftigte, und Kunst war sowieso immer eine Inspirationsquelle auch für die Werbung. Ich wusste, was eine gute Bildidee und eine interessante Story ist und wie Motiv, Perspektive, Farbe und Stil wirken. Mein Leben als freier Künstler begann an diesem Sommertag auf der Terrasse in der Molino Pincion in Dolcedo/Italien. Ich verstand vom ersten Moment und machte doch alles anders.

Ich entschied mich für das Aquarell und breche all seine Konventionen. Mein Pigmentauftrag sucht sein Vorbild in der Ölmalerei. Wasser und Papier sind gestalterische Elemente. Mal beginne ich mit hellen, mal mit dunklen Passagen oder dunkle Passagen werden hell übermalt. Weiß ist immer eine Option und kommt für Spitzen und Mischungen oder beim Lavieren und Lasieren zum Einsatz. Der Auftrag des Pigmentes reicht von spontan bis akribisch, mal fließend mal stehend. Mit viel oder wenig Farbauftrag und mit unterschiedlichen Pinselgrößen. Pigmente werden abgenommen und durch eine andere Farbe ersetzt. Übermalungen sind üblich. Spontaner Auftrag und akribisches Arbeiten wechseln innerhalb eines Motivs mehrmals. Die Motive, Ausschnitte und Perspektiven weichen von üblichen Watercolour Paintings ab. Häufig ist das Papier an keiner Stelle mehr sichtbar, aber dennoch bleibt seine Weichheit und Wärme erhalten, und jedes Mal entsteht ein Gemälde. Ich erfand meine eigene Technik.

Gleich zu Beginn meines Schaffens fotografierte ich die Malfortschritte jedes Bildes. Sie dienten lediglich der Beurteilung des Gesamteindruckes. Das Abbild des unfertigen Bildes auf dem Kameramonitor erlaubte mir den distanzierten Blick auf Form, Farbe, Proportion und Kontrast. Die Wiedergabe auf einem Monitor, der durch sein Leuchten das Original verändert, schuf Distanz zum Gemalten. Ich erkannte schneller, ob eine Idee funktionierte.

Gleich die erste Fotoserie von ca. 8 Malfortschritten bis hin zum fertigen Bild war wie eine Eingebung. War da eine Idee, an der man festhalten sollte? Die Entstehung des Originals in chronologischer Abfolge. Von unvollendet bis vollendet. Der Malfortschritt wurde sichtbar – die Zwischenbilder, die nie jemand zu Gesicht bekommt, wurden festgehalten. Die Fotografien, später entschied ich mich für Scans, erzählen die Geschichte des fertigen Bildes. Jedes Motiv eine Entdeckungsreise. Ein Anfang mit ungewissem Ausgang. Viele Bilder in einem.

Die Dokumentation der Malfortschritte lässt in das Original hineinblicken. Die Zwischenbilder sind vergangen, aber nicht verloren. Sie erzählen vom fertigen Bild und jedes erzählt seine eigene Geschichte – Narrative Malerei.

Die narrativen Folgen legen die Maltechnik und den konzeptionellen Aufbau frei.

Das Offenlegen der Malfortschritte offenbart eine eigene Ästhetik. Sie erzählen von Raum, Zeit, Protagonisten und Landschaften. Jede Bilderfolge lädt zum Entdecken ein. Der Betrachter erkennt von Bild zu Bild im dazwischen liegenden Raum. Malerei, wie Kino im Kopf. Vollgesogen vom Augenblick werden Farbe, Form, Raum und Zeit zu einem ganzheitlichen Erleben. Heute male ich Zwischenbilder, nach der Fertigstellung des Endbildes, noch einmal. So werden auch sie zum vollendeten Original.

Da ich viele Werbefilme schrieb und auch als Werbefilmregisseur arbeite lag es nahe, dass ich aus den Malfortschritten Filme machen würde. Die Abfolgen wirken wie ein Daumenkino. Die filmischen Mittel, Schnitt, Timing, Musik und Narration beleuchten die Bilder von einer neuen Perspektive. So entstand mein erster Aquarellfilm Central Garden 2. Ein knapp siebenminütiger Film mit einer Serie von Blumenbildern und Landschaften.

Central Garden 2 erzählt die 4 Jahreszeiten. Die Malfortschritte laufen in unterschiedlichem Tempo und Rhythmus. Die filmischen Mittel führen zu Montagen, die nicht ausschließlich chronologisch sind. So laufen manche Sequenzen rückwärts bis nur das weiße Papier stehen bleibt. Manchmal formieren sich die Bilder zu Gruppen. Ein anders Mal werden Bildausschnitte neu arrangiert. Kleine narrative Szenen und Einheiten, die rhythmisch zur Musik tanzen.

Zu den Bildfolgen gehören auch die Mischtafeln, auf denen die Farbmischungen getestet wurden und die Abtupftücher, die zur Reinigung des Pinsels oder zum Abnehmen von Wasser oder Farbe dienen. Sie entstehen intuitiv, weil sie außer dem Farbtest oder der Dosierung von Farbe und Wasser keinen besonderen Zweck haben. Sie sind die Teststreifen der Farbmischungen, Verläufe, Lavierungen, Pinselauflagen und der Bilder. Betrachtet man sie zusammen mit den Malfortschritten und dem fertigen Aquarell, erkennt man deren Verwandtschaft. Sie sind der innere Spiegel des fertigen Bildes und mir selbst.